(im Ton der alten chinesischen Meister)
Am Rand des Weges
Ein Kind, ein Kätzchen.
Die Pfütze: still.
Ein Streifen Licht darin.
Was sich zeigt,
ist nicht der Himmel,
nicht das Kind –
ein Wesen mit Kraft im Blick.
Kein Wind.
Kein Wort.
Nur Sehen.
Der Tiger geht nicht fort,
doch auch nicht näher.
Was war, wird sein.
Das Kind erhebt sich.
Der Weg geht weiter.
Im Wasser:
nichts mehr.
Doch in der Stille
bleibt ein Abdruck –
nicht im Stein,
sondern im Herzen.
(im Ton von Pindar)
Nicht alle, die wandeln, erkennen sich selbst.
Doch groß ist die Gnade der Götter,
die mit flüchtigem Glanz
uns Zeichen schenken im Staube des Wegs.
Ein Kind, am Rande des Tages,
beugt sich zum Spiegel des Regens herab.
Was dort erscheint, ist kein Trugbild,
sondern der Schatten des Werdens.
Im Knaben schlummert der Tiger,
nicht als Raub, sondern als Ordnung,
wie Kronos einst schlief
unter dem goldenen Gebälk der Zeit.
„Erkenne dich“, spricht das Licht,
„Ergreife dich“, ruft das Bild aus dem Grund.
Nicht was ist, doch was werden soll,
zeigt sich dem Reinen im Wasser.
So lehrte die Stunde am Wege
das Herz, das den Sprung nicht scheute.
Und was unscheinbar schien,
wurde der Thron eines Wachsenden.
(im Ton von Archilochos)
Ich stand am Rand – nicht aus Mut,
das Pflaster war nass.
Ein Kätzchen sog den Regen auf,
als hätte es nichts zu verlieren.
Im Wasser war ein Tiger.
Nicht aus Gold.
Nicht aus Licht.
Ein Blick. Kein Versprechen.
Ich dachte: Das bin ich.
Oder der, der ich nicht wurde.
Was soll's –
der Stein kennt kein Mitleid.
Wer einen Tiger sieht
und singend in den Kampf geht,
hat seine Hilfe vielleicht verdient.
Ich bin gegangen.
Kein Schild, kein Lied.
Nur das Wasser ist es,
das alles zurückbehält.
(im Ton von Marc Aurel)
Du stehst am Rand.
Das Wasser ist ruhig.
Die Welt wirft dir ein Bild zu –
nimm es nicht eitel.
Ein Tier blickt dir entgegen.
Nicht furchtbar, nicht fremd.
Nur ein Spiegel
dessen, was in dir erwacht.
Fasst dich Mut?
So prüfe ihn.
Ist er laut, ist er flüchtig.
Ist er still, ist er wahr.
Was du heute ahnst,
war schon in dir,
bevor du den Blick hobst.
Der Spiegel ist nur Erinnerung.
Gehe weiter.
Nicht größer als du war der Tiger.
Nur klarer.
Werde, was du erkennst.
(im Ton der Edda)
Still stand das Kind,
Stein war sein Schuh,
stumpf lag der Himmel
im schlammigen See.
Nebst ihm das Kätzchen,
knurrlos, gekrümmt,
ein Hauch nur von Wärme
in winterndem Wind.
Da sah es am Wasser –
Weite erwachte.
Ein Tier trat aus Tiefe,
Tatzen aus Glanz.
Nicht klein war der Blick,
nicht stumm sein Gesicht.
Ein Funke von Feuer,
ein Faden von Macht.
Kein Wort ward gesprochen,
kein Wille gefragt.
Doch wusste das Kind:
Der Ruf war gefallen.
Was war, wird nun werden.
Was still war, erhebt.
Ein Tiger im Spiegel
streift durch das Herz.
(im Ton von Meister Eckhart)
Ein Kind sieht ins Wasser.
Nicht die Form ist es, die spricht,
sondern das Schweigen darin,
das tiefer geht als Licht.
Was da erscheint, ist keine Gestalt.
Es ist der Grund, der schaut.
Kein Tier, kein Trug, kein Namenswort –
es ist, was in ihm baut.
Das Kätzchen weicht. Das Bild bleibt stehn.
Ein Auge sieht das Auge an.
Nicht zwei, nicht eins, nicht Innen mehr –
nur Sein, das werden kann.
Was in den Spiegel fiel,
war nicht vom Blick gemacht.
Es war das All, in dem
der Wille Gottes wacht.
Und wer so sieht, hat sich verloren.
Doch ist er auferstanden.
(im Ton von Martin Luther)
Ein Kind ging still auf dunklem Pfad,
die Erde feucht, der Himmel matt.
Ein Spiegel lag im Pflastergrund,
und Gottes Atem war der Mund.
Da sah es Tiefe ohne Grund,
ein Tier daraus, mit treuem Fund:
ein Aug, das sah, ein Herz, das schwieg –
als wär es Geist, der sich verbiegt.
„Was ist dies Bild? Ist’s Trug, ist’s wahr?
Ist’s meiner Seele Offenbar?“
So fragt das Herz, so steht das Kind,
und wartet, wo die Antwort rinnt.
Nicht Furcht ist’s, was den Blick ihm drückt,
nicht Stolz, der in die Brust sich rückt.
Ein Feuer ruht in seinem Sinn –
das lehrt ihn: ich gehör dahin.
Denn Gottes Ruf ist nicht wie Schall,
er tönt in mir, er wächst einmal.
Und was ich bin, das bin ich nicht,
eh ich’s im fremden Spiegel seh.
(im Ton von Hafis)
Ein Kind stand still am Rand der Welt,
sein Blick im Wasser, das nichts hält.
Ein Kätzchen neben ihm, ein Traum,
sein Schnurren leis – ein Feigenbaum.
Im Spiegel zittert Sternenglanz,
ein Tiger hebt den Blick im Tanz.
Er schaut aus tiefer Finsternis
und ist zugleich, was Zukunft ist.
„Bin ich das dort?“ Das Kind fragts nicht,
doch fühlt im Herzen jenes Licht,
das aus dem Dunkel flammen kann –
wenn einer weiß, dass er es fand.
Was leuchtet auf, ist nicht nur Bild,
es ist ein Ruf, ein Geist, ein Schild.
Die Pfütze klein, der Himmel weit –
in ihr begann Unendlichkeit.
(im Ton Johann Wolfgang von Goethes)
Am Rande saß, bei Stein und Gossen,
ein Kätzchen still, vom Blick umschlossen.
Im Wasser, leicht von Glanz bewegt,
ein Bild, das sich im Lichte regt.
Es sah, doch sprach es kein Verlangen,
kein Staunen stand ihm ins Gesicht.
Was kam, war still, doch tief gefangen:
ein Abbild, das von Stärke spricht.
Kein Spiel, kein Traum, kein Märchenwille –
Natur beginnt, wie stets, im Grund.
Im Kleinen regt sich große Stille,
im Spiegel wird die Ahnung kund.
Nicht was du bist, ist schon gegeben,
doch was du werden kannst, erscheint.
Ein jeder trägt, in seinem Leben,
was ihn mit seiner Form vereint.
(im Ton Friedrich von Schillers)
Am Rand der Stadt, wo Pflaster bricht,
da steht ein Kind mit stillen Sinnen.
Die Sonne fällt in flaches Licht,
der Tag beginnt sich zu verrinnen.
Ein Kätzchen duckt sich nebenbei,
sein Schatten ruht auf grauen Steinen.
Kein Laut, kein Schritt – nur einerlei
der Zeit, die sich beginnt zu einen.
Das Kind beugt sich und sieht hinab
in eine Pfütze, klar und flach.
Ein Funkeln liegt in ihrem Grab,
als hielte sie, was keiner sprach.
Da hebt sich aus dem Spiegelgrund
ein Bild, das fremd und nah zugleich:
Ein Tiger mit geöffn’tem Mund,
sein Blick ist wild, sein Fell ist weich.
Er schaut das Kind – und dieses sieht
in jenem Blick ein heimlich Feuer.
Was nie im Wort, doch tief geschieht,
wird da zur Ahnung, leise, teuer.
„Bin ich das dort?“ – der Ruf bleibt stumm,
doch pocht das Herz in neuer Weise.
Es steht noch da, bewegt, doch krumm,
als ob ein Schwur sich regte leise.
Denn wer sich erkennt im Spiegelbild,
der sieht sich im neuen Licht:
Wachsen zu dem, was die Zukunft stillt –
und nicht zu fliehen vor der Pflicht.
(im Ton von Friedrich Hölderlin)
Ein Knabe stand am stillen Pfad,
die Pfütze glänzte sacht im Stein.
Es ruhte mild das Himmelsrad
im Wasser, klar und doch allein.
Ein Bild erhob sich licht und stumm,
ein Antlitz fremd und doch verwandt.
Ein Feuer brannte tief und fromm,
das fern aus einer Tiefe stand.
Er sah – und ward sein Herz bewegt,
der Atem schwieg, der Blick war frei.
Ein Geist, der sich im Bilde regt,
stieg auf aus goldner Kinderei.
Wer einmal in das Wesen schaut,
das still im Spiegel sich enthüllt,
der trägt, auch wenn er nicht mehr glaubt,
ein Licht, das seine Seele stillt.
(im Ton von Alexander S. Puschkin)
Ein Kätzchen hockt am Straßenrand,
ein Kind schaut still mit ruhiger Hand.
Die Pfütze glänzt im grauen Stein,
dort blickt es tief ins Bild hinein.
Doch sieh: Im Wasser, klar und rund,
da leuchtet etwas tief und bunt.
Ein Tiger, groß, mit hellem Blick,
blickt aus dem Spiegelbild zurück.
„Bin ich das dort?“, das Kind erstaunt,
das Bild im Wasser tief vertraut.
Die Pfote klein, der Wille groß,
ein Leuchten hell und grenzenlos.
Geboren in des Tigers Jahr,
die Kraft in ihm wird wahr.
Noch spricht es leise, spielt und lacht,
doch in ihm lebt, was stark entfacht.
Im Spiegelbild, so nah und klar,
erkennt es tief das eigne Bild.
Ein Kind – und doch ein König bald,
der fest die Welt in Händen hält.
(im Ton von Michail J. Lermontow)
Ein Kätzchen hockt am Straßenrand,
ein Kind steht still, den Blick gespannt.
Die Pfütze ruht – und spiegelt klar
ein Wesen, kühn und wunderbar.
Kein Kindsgesicht, kein kindlich Tun,
aus Wasser steigt ein Bild voll Ruhm.
Ein Tiger blickt - nicht wild, nicht bang,
als trüg er Zeit in seinem Gang.
Was ahnt das Herz? Was denkt der Blick?
Ein Funke brennt, ein Traumesstück.
Kein Wort – im klaren Spiegelbild
wird etwas Großes aufgewühlt.
Er weiß es kaum; was er dort sieht,
es wächst heran, wenn Zeit geschieht.
Noch ist er Kind, mit hellem Sinn –
in seinem Innern reift des Tigers Geist.
(im Ton von Heinrich Heine)
Ein Kätzchen sitzt am Straßenstein,
von Frühlingssonne mild erhellt.
Es sieht ins Wasser, blank und rein,
das still die Zeit im Spiegel hält.
Die Welt verschwimmt im kleinen Teich,
der Himmel liegt darin.
Ein Umriss wird auf einmal weich,
als hätt er neuen Sinn.
Ein Tiger hebt den Blick empor,
gefasst und wie im Traum.
Das Kätzchen sieht – erkennt in ihm
sein Selbst in neuem Raum.
Denn was da schnurrt, ist nicht nur klein,
nicht nur aus Spiel und Traum gesponnen,
es ruht ein Mut in seinem Blick,
und hat den ersten Schritt begonnen.
Geboren in des Tigers Jahr,
ist er noch zart, doch nicht zu zähmen.
In ihm beginnt ein früher Drang,
das Leben wach und frei zu nehmen.
Er sitzt noch da, am Rand der Zeit,
ein Junge, ernst und weich zugleich –
doch was in ihm Gestalt gewinnt,
bleibt tief und leuchtend tigergleich.
(im Ton von Theodor Storm)
Ein Kind stand still am Straßenrand,
die Pfütze glänzte tief und klar.
Ein Windhauch zog durch seine Hand –
der Tag war kühl, das Herz war wahr.
Im Wasser, das vom Himmel sprach,
erschien ein Bild, so groß, so fern.
Ein Tigerblick, der leise wach
in jenem Spiegel stand und gern.
„Bin ich das dort?“ – ein kurzes Beben,
ein Ahnen, das von innen kam.
Noch spielte still sein junges Leben,
doch trug es schon den Flammentraum.
Die Blätter flüsterten im Kreis,
der Regen stand in grauem Licht.
Das Bild verging – doch blieb ein Weiß,
das durch die Zeit zur Seele spricht.
(im Ton von Theodor Fontane)
Ein Kätzchen saß im Straßengraben,
die Welt war grau, der Himmel trüb.
Ein Kind blieb stehen, wie im Warten,
als ob es dort ein Zeichen gäb.
Die Pfütze lag in tiefer Stille,
ein Hauch von Wind, ein Rest von Licht –
und aus dem Grund, so ganz im Spiele,
hob sich ein befremdliches Gesicht.
Ein Tiger war’s, nicht wild, nicht drohend,
nur wachsam, stark und ganz bei sich.
Das Kind sah hin, und ohne Staunen
war’s doch berührt – auch innerlich.
Es sprach kein Wort, es ging vorüber,
doch etwas blieb, das war nicht klein:
ein Ahnen, stumm, noch ganz allein
in jenem Bild im Pfützenstein.
(im Ton von Rainer Maria Rilke)
Du neigst dich über eine flache Stelle
im Pflaster, wo das Licht im Wasser wohnt.
Noch liegt dein Blick im Spiel, in sanfter Schwelle,
und doch: ein Bild, das schweigend sich entfloh’n.
Nicht du bist’s ganz – und doch in dir geboren:
ein Tier aus Gold, gespannt und ohne Scheu,
das deine Züge trägt, doch unverloren
in weiter Tiefe ruht – und nie ganz neu.
Du schaust, du staunst. Es ist kein Spiel von Regen.
Es ist kein Traum. Es ist, was dich erkennt.
Ein Glanz, in dem sich Kräfte still bewegen,
ein Ruf, der dir dein Späteres benennt.
Denn alles, was du bist, ist schon gewesen.
Und alles, was du wirst, beginnt schon hier.
Im Wasser lebt ein Bild von deinem Wesen,
und was dich übersteigt, das spricht aus dir.
Die Parabel vom Tier hinter der Pfütze
(im Ton Franz Kafkas)
Ein Kind kam auf dem Heimweg vom Spielen an einer Pfütze vorbei.
Sie war klein, ein Schatten zwischen Pflastersteinen.
Es beugte sich hinab und sah sich nicht.
Was dort zu sehen war, war nicht klar umrissen,
doch Es wusste, dass Es etwas ansah.
Ein Tier, sagte Es sich,
aber nicht aus dieser Welt.
Es hatte Augen. Oder: Es war ein Blick.
Das Kind hätte fortgehen können. Es blieb.
Es war niemand dort, der ihm etwas erklärte.
Auch das Wasser schwieg.
Und doch war in Es etwas übergegangen.
Es wusste nicht was, nur, dass Es von nun an warten würde.
Worauf – war nicht zu sagen.
Aber das Warten war da,
und das Tier – vielleicht – auch noch.
Ein Junge steht am Wasser
(fiktive Stimme eines Vaters um 1900)
Wenn ein Bub zu lange in eine Pfütze starrt,
dann hat er entweder zu wenig Arbeit
oder zu viele Flausen im Kopf.
Ich sah ihn heute, auf dem Heimweg von der Schule.
Still stand er da, den Blick im Dreck –
als könne das stehende Wasser ihm etwas sagen.
Ein ordentlicher Junge sieht nicht nach unten.
Er schaut nach vorn. In die Ordnung.
Ins Gesetz. Ins Gesicht des Vaters.
Einen Tiger, sagte er später, habe er gesehen.
Einen Tiger!
In Linz, auf dem Gehsteig.
Ich sagte nichts.
Denn manche Irrtümer müssen wachsen,
bevor man sie mit Strenge beseitigt.
(im Ton von Boris L. Pasternak)
Er steht am Rand. Kein Laut im Wind.
Ein Tropfen fällt. Die Zeit verrinnt.
Die Pfütze atmet. Himmel, Stein
und alles spiegelt sich hinein.
Ein Kätzchen sieht – erkennt noch kaum.
Im Wasser liegt ein Kindheitstraum.
Ein Tiger taucht aus Licht und Grau –
so groß, so fern, so fremd vertraut.
Das Kind steht still. Es fragt nicht viel.
Die Welt ist Raum. Der Blick: ein Ziel.
Was lebt in ihm, das ihn erfasst,
wenn Mut durch Spiegelbilder passt?
Die Dinge sagen nichts, doch schwingen.
Die Schatten tanzen, Zweige singen.
Ein tiefer Klang, ein ferner Zug
durchzieht das Herz mit tiefem Pflug.
Geboren dort, wo Kräfte ruhn,
beginnt in ihm ein leises Tun.
Kein Brüllen braucht es, keinen Plan –
nur Gegenwart, die wachsen kann.
(nach Bert Brecht)
Ein Kind – neutral.
Ein Kätzchen – niedlich.
Eine Pfütze – zufällig vorhanden.
Der Versuch beginnt.
Das Kind blickt hinein.
Das Kätzchen auch.
Im Wasser:
Ein Tiger. Groß. Symbolisch.
Achtung, Leser:
Das ist keine Metapher.
Das ist ein Bild, das ein Bild ist.
Mehr nicht. Oder mehr?
Man könnte sagen:
Das Kind sieht sich selbst.
Oder:
Es sieht, was es nicht sein darf.
Der Tiger zeigt Zähne, aber nicht in echt.
Die Pfote bleibt klein.
Die Straße bleibt grau.
Das Licht ändert sich nicht.
Fazit?
Das Kind geht weiter.
Es hat etwas gesehen.
Und wird sich daran erinnern,
wenn man es fragt –
vielleicht.
Der Blick in das Wasser
(im Ton von Ernst Jünger)
Die Erscheinung war einfach.
Ein Kind, ein Trittstein, eine Pfütze.
Doch in solchen Konstellationen –
zwischen Regenschauern und erster Müdigkeit –
öffnet sich gelegentlich ein Spalt im Stoff der Welt.
Das Wasser war nicht nur Wasser.
Es war ein Speicher – für Tiefe, für Spiegelung, für Ahnung.
Ein Tier erschien. Nicht materiell, doch deutlich.
Es war keine Fabel, sondern eine Möglichkeit.
Der Blick des Kindes traf auf den Blick des Anderen.
Nicht Feind, nicht Freund.
Ein Gegenüber aus uralten Zonen.
So etwas bleibt nicht haften wie Schlamm.
Es brennt sich ein – lautlos, unerbittlich.
Wenn später das Kommando ertönt,
und der Marsch beginnt –
wird jener Moment im Wasser mitmarschieren.
(im Ton von Orhan Pamuk)
An jenem späten Nachmittag,
als die Schatten sich länger dehnten als die Bäume,
stand das Kind wieder dort –
an der Stelle, wo das Pflaster brüchig war
und die Stadt leise begann, sich zu vergessen.
Neben ihm das Kätzchen,
ein wenig müder als sonst,
als spürte es etwas,
das die Menschen nicht spüren durften.
Im Wasser zwischen den Steinen
– kaum größer als eine offene Hand –
zitterte ein Bild.
Nicht klar, nicht deutlich,
aber alt.
Wie eine Erinnerung,
die nie erzählt wurde.
Zuerst war es nur Licht.
Dann: ein Umriss.
Dann: Augen,
die nicht dem Kind gehörten,
aber etwas von seinem Schweigen kannten.
Ein Tiger vielleicht.
Oder der Schatten eines Tigers,
wie er einst
durch einen anderen Traum ging.
Das Kind beugte sich tiefer,
doch es war kein Neugier darin,
sondern das Gefühl,
zum ersten Mal gesehen zu werden.
Die Geräusche der Straße,
der Geruch von Staub,
der flüchtige Wind:
sie blieben,
aber das Bild verschwand.
Und als das Kind weiterging,
blieb nichts zurück –
außer einer leisen Unruhe
im Licht der Pfütze,
die morgen vielleicht
eine Geschichte sein würde.
(im Ton von Akif Pirinçci)
Ein Balg steht da und glotzt ins Wasser.
Nebendran hockt ne Katze, tut auf weise.
Der Asphalt stinkt, der Himmel ist dreckig.
Romantik? Am Arsch. Es ist nur ne Pfütze.
Und dann – halt dich fest –
sieht das Görenvieh da was Großes.
Streifen. Augen wie Laserpointer.
Ein Tiger. In echt? Klar doch. Läuft.
Die Katze glotzt. Das Kind auch.
Keiner sagt was. Keine Musik.
Aber hey:
Plötzlich ist da so’n Gefühl. So’n Ding im Bauch.
Was ist es? Hoffnung? Identität?
Quatsch. Nennt man Pubertät im Ansatz.
Oder Selbstverklärung mit Schlammrand.
Der Kleine geht weiter.
Die Katze trottet hinterher.
Was bleibt?
Ein matschiges Spiegelbild
und der Verdacht, dass aus kleinen Brüllern
manchmal große Katzen werden.
(im Ton von Michael Klonovsky)
Ein Kind, wie aus der Zeit gefallen,
steht sinnend an der Bordsteinkante.
Die Pfütze – schlicht, nicht sebstverliebt –
spiegelt nicht nur Wolkenreste.
Ein Kätzchen harrt, als wär’s ein Sphinx,
mit jenem Blick, den Tiere tragen,
wenn sie uns lehren – ohne Absicht –,
dass Schweigen Wissen überragt.
Was dort erscheint, ist nicht die Katze,
nicht das Kind, nicht bloß das Licht.
Ein Tier von edler Ordnung
hebt das Gesicht aus trübem Grund.
Der Tiger – sagen wir’s gleich offen –
ist nicht das Kind, doch auch nicht fremd.
Er ist das, was man sein könnte,
wenn man nicht ständig sich bekämpft.
Ein Gleichnis? Nein - ein Spalt im Jetzt.
Ein Zucken in der Architektur der Welt.
Ein Augenblick der Möglichkeit,
gewandet in Natur.
Das Kind? Es wendet sich zur Straße hin.
Die Ampel schaltet auf Zivil.
Die Szene löst sich aus dem Tage -
zurück bleibt nichts. Nur: Stil.
Haiku-Trilogie
Kind am Wasserrand –
der Himmel zittert im Stein,
ein Blick fällt zurück.
Im Spiegel ein Glanz,
nicht Traum, nicht Spiel – eine Spur
führt tief in das Jetzt.
Die Pfote verharrt.
Was war, beginnt still zu sein –
ein Tiger erwacht.